Finales Europa
28.02.2007 - BERLIN/PARIS/PRAG - Berlin überwindet den Widerstand mehrerer EU-Regierungen und setzt zentrale Elemente einer europaweiten "Verfassung" durch. Nach Großbritannien und den Niederlanden erklärt sich auch Tschechien zum Einlenken bereit. Der konservative französische Präsidentschaftskandidat Sarkozy kündigt die parlamentarische Ratifizierung eines "vereinfachten Vertrags" an. Einzige Bedingung ist, dass die Bundesregierung auf die Bezeichnung "Verfassung" verzichtet; andernfalls wäre die notwendige Umgehung eines erneuten Referendums in den Niederlanden nur unter Bruch des nationalen Rechts möglich. Wie aus einem internen Zeitplan des Bundeskanzleramts hervorgeht, sollen die letzten Verhandlungen am 23. April beginnen und zum 1. Juni abgeschlossen sein. Zuvor lanciert Berlin eine groß angelegte PR-Aktion, die Ende März in einem "Europafest" gipfelt und in mehr als 50 deutschen Städten mit einer "Informationstour" fortgeführt wird. Für das Unternehmen ist ein zweistelliger Millionenbetrag veranschlagt. Kooperationspartner der Propagandamaßnahmen, die sich auch an Kinder und Jugendliche richten, sind Abteilungen der Bundeswehr, darunter eine auf psychologische Operationen spezialisierte Institution.
Schlagkräftiger
Fast alle Staaten, die den vorliegenden Entwurf für die von Berlin geforderte EU-Verfassung ablehnen, haben in den vergangenen Wochen ihren Widerstand in großen Teilen aufgegeben. Wie die Regierungen Großbritanniens und der Niederlande Anfang Februar erkennen ließen, sind sie mit einem stark gekürzten Vertragstext einverstanden. Er soll die Straffung der EU-Institutionen regeln, damit einer schlagkräftigeren Außenpolitik den Weg bereiten und womöglich Mehrheitsbeschlüsse auf zentralen Politikfeldern einführen; solchen Mehrheitsbeschlüssen verweigert sich noch Großbritannien.[1]
Protektorat
Nach massiven deutschen Interventionen lenkt jetzt auch die tschechische Regierungskoalition ein und erklärt sich zu Gesprächen über einen Vertragstext bereit, der "übersichtlicher, transparenter und eindeutiger" sein soll als der vorliegende Entwurf.[2] Noch vor wenigen Wochen hatten Prager Regierungsberater Drohungen aus der SPD scharf zurückgewiesen, denen zufolge die Tschechische Republik bei anhaltender Weigerung isoliert werde: Die Deutschen wünschten sich wohl das Protektorat Böhmen und Mähren zurück, hatte ein führender Berater des tschechischen Staatspräsidenten Václav Klaus noch Anfang Februar erklärt.
Noch im Sommer
Als entscheidend gilt die Ankündigung des französischen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy, im Falle seines Wahlsieges trotz des gescheiterten Referendums vom Mai 2005 einen "vereinfachten Vertrag" per Parlamentsbeschluss zu ratifizieren. Die dafür vorgesehene Straffung der EU sei "in der Referendumskampagne nicht auf Widerstand gestoßen", behauptet Sarkozy; eine erneute Abstimmung der Bevölkerung sei daher nicht nötig.[3] Der Präsidentschaftskandidat hat die Verfassungsthematik vor zwei Wochen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel erörtert und verlangt nun einen beschleunigten Ratifizierungsprozess. Das Pariser Parlament könne einen gekürzten Text noch in diesem Sommer abnicken, stellt Sarkozy in Aussicht. Er schließt sich damit ähnlichen Ankündigungen der neuen niederländischen Regierung an. Den Haag hatte Anfang Februar allerdings zur Bedingung gemacht, der neue Vertrag müsse sich "in Name, Inhalt und Umfang" von dem bisherigen Entwurf unterscheiden.[4] Dokumente von Verfassungsrang dürfen in den Niederlanden nur per Referendum in Geltung gesetzt werden.
Focal points
Die entscheidenden Verhandlungen werden für den Zeitraum zwischen dem 23. April und dem 1. Juni erwartet. Dies geht aus einem internen Zeitplan des Bundeskanzleramts hervor, der dieser Redaktion vorliegt. Demnach sind für die letzte April- und die erste Maiwoche "vertrauliche Konsultationen" in der deutschen Hauptstadt angesetzt - "auf Ebene focal points", heißt es in dem Dokument. "Focal points" sind im Sprachgebrauch der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Sonderbeauftragte der Staats- und Regierungschefs mit Verhandlungsbefugnis in der Verfassungsthematik; deutscher "focal point" ist der europapolitische Berater der Kanzlerin, Uwe Corsepius. Wie aus Regierungskreisen verlautet, wird nicht damit gerechnet, dass Corsepius die Verhandlungen in allen Details zu Ende bringen kann. Daher hält sich Angela Merkel zwischen dem 21. Mai und dem 1. Juni persönlich für "bilaterale Gespräche" über den Verfassungsvertrag in der deutschen Hauptstadt bereit. Danach steht unmittelbar die "Finalisierung eines Vorschlags" für den Juni-Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs auf dem Programm.
Kletterpyramide
Der abschließenden Verhandlungsrunde geht eine groß angelegte PR-Aktion der Bundesregierung voraus. Das informelle Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs am 25. März in Berlin, bei dem die nächsten gemeinsamen Verfassungs-Festlegungen getroffen werden sollen, wird von einem massenwirksamen "Europafest" begleitet. Die Bundesregierung kündigt für das gesamte letzte Märzwochenende "eine bunte Mischung aus Musik, Kultur und Information" an: "Europa wird an beiden Tagen mit einer 'Nacht der Schönheit' der Staatlichen Museen, einer 'Europäischen Clubnacht' und einer großen Open-Air-Veranstaltung rund um das Brandenburger Tor gefeiert."[5] In den folgenden Wochen will Berlin eine "Informationstour" durch mehr als 50 deutsche Städte durchführen. Unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten werden "Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesregierung (...) Antworten auf die Fragen von Bürgerinnen und Bürgern" geben. Die staatliche Mitteilungskampagne bezieht auch Minderjährige ein: "Eine Europa-Kletterpyramide mit Betreuerinnen und Betreuern ermöglicht Kindern und Jugendlichen einen spielerischen Zugang zur EU."[6]
Strukturiert
"Modellprojekte" mit PR-Charakter führt auch eine "Forschungsgruppe Jugend und Europa" durch, die zum Münchner Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) gehört, einem mit der Bertelsmann-Stiftung kooperierenden Thinktank. Die Münchner "Forschungsgruppe" gibt an, sich der "großen Akzeptanzprobleme (der EU) in der Bevölkerung" zu widmen und speziell Jugendlichen "Wege der Mitsprache und Partizipation in Europa (...) zu erschließen".[7] Zu den Projekten der Gruppe gehören "Peer Learning Aktivitäten" (eine "Juniorteamausbildung" mit den Schwerpunkten EU-Verfassung und EU-Erweiterung) sowie ein "strukturierter Dialog mit der Jugend" in staatlichem Rahmen - Ende März tagt ein "Jugendparlament zur EU-Erweiterung" im Bayerischen Landtag.
Kriegführung
Die "Forschungsgruppe" gibt an, "über ein weitreichendes Netzwerk von Kooperationspartnern aus den unterschiedlichsten Bereichen" zu verfügen. Zu ihren "wichtigsten Partnern" zählt sie das Bundesministerium der Verteidigung, das Zentrum Innere Führung der Bundeswehr sowie die Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation (AIK) in Strausberg bei Berlin.[8] Die AIK ist unmittelbar aus den früheren Bundeswehrabteilungen für "Psychologische Kriegführung" (PSK) und "Psychologische Verteidigung" (PSV) hervorgegangen und setzt deren Tätigkeit in wissenschaftlich anmutendem Rahmen fort.[9]
Lesen Sie zur deutschen EU-Propaganda auch Europäische Kommunikationspolitik, Bauhaus Europa und Deutscher Burgfrieden.
- s. dazu Austrittsgedanken
- Prag will über EU-Vertrag reden; Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.02.2007
- Sarkozy will vereinfachte EU-Verfassung bis zum Sommer; Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.02.2007
- Tagesspiegel 08.02.2007; Zweiter Versuch für EU-Verfassung
- Europafest am 24. und 25. März 2007; www.bundesregierung.de
- Informationstour "Europa wird 50"; www.bundesregierung.de
- Europadialog und europäischen Bürgersinn stärken; www.cap-lmu.de
- Kooperationspartner der Forschungsgruppe Jugend und Europa; www.fgje.de
- s. dazu Neues Steuerungsniveau, Journalisten-Forum undFilmrezension: Gesteuerte Demokratie?